Codewort Tigerin

Vom Aussterben bedroht

Der Tiger ist weg. Er hat ihn immer zuerst gesehen, wenn er nach Hause kam. Dieses glasierte, grelle Fell, die Zähne gefletscht, scheußlich war er. Überhaupt diese ganze Pose. Bereit zum Sprung, das passt nicht zu ihr.

Sie hat ihn beim Bogenschießen gewonnen auf dem Stadtfest. Sie hat nie vorher geschossen. Sie hat überhaupt nie etwas so Martialisches gemacht.

„Es ist egal, ob du ihn hübsch findest. Das ist mein Preis, ich habe ihn errungen“, hat sie gesagt. Zwanzig Jahre dürfte das Ding hier gestanden haben, damals waren die Kinder noch klein, und jetzt ist der Platz an der Garderobe leer.

Es ist überhaupt leer im Flur. Der Daunenmantel, der immer aussah, als hätte sie ihr Bettzeug dort hingehängt. Weg. Die Reihe mit den Schuhen, die immer unter der Heizung standen. Auch weg. Er hat ihr so oft gesagt, dass sie sich mal etwas gönnen soll. Er hätte doch auch das Haushaltsgeld aufgestockt, sie hätte nur fragen müssen.

Geld war immer genug da. Dafür hat er gesorgt und dafür hat sie sich um das andere gekümmert. Wann hätte er das auch machen sollen?

Dann kam seine Tochter an. Das ist noch gar nicht so lange her. Ihr erstes Kind war gerade geboren und sie zu Hause. Was auch sonst? „Hast du Mama eigentlich all die Jahre eine Ausgleichszahlung geleistet für die Care-Arbeit, die sie dir abgenommen hat?“ Ich habe überhaupt nicht verstanden, was sie meinte. Care-Arbeit. Sie hat das doch gern gemacht.

Am Ende des Flurs ist der Wandsafe. Die Kombination ist unser Hochzeitstag. Immer schon. Jetzt hängt ein Zettel dran. „Lieber Paul, 33 Jahre als Haushaltshilfe, Sekretärin, Kindermädchen und die Rentenzahlungen. Ich habe nur den Mindestlohn angesetzt, damit hat es gerade so gereicht. Mach’s gut, Deine Elli. PS: Es war immer schon eine Tigerin.“

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